Die erste Retrospektive in Deutschland


04. Juni - 23. Juli 2011

June 4th - July 23th 2011




                                                                                                                                                       Karlheinz Weinberger                                       

                                                                                                                                                                                                   Zürich ca. 1967

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Zürich, späte 1950er Jahre. Die Schweiz laviert zwischen den ideologischen Fronten von Ost und West und schmückt sich nach außen mit einer Blockfreiheit, der so gar keine innere Freiheit zu entsprechen scheint. Auch weil den Bürgern ein ständiges Bedrohungsszenario vorgegaukelt wird, ist das Sicherheitsbedürfnis gesteigert, das Misstrauen geschärft und der Fremdenhass beginnt zu keimen. Es empfiehlt sich, in dieser miefigen Enge die Camouflage der Bürgerlichkeit zu pflegen, und so trifft man inmitten der perfekt geordneten Verhältnisse auch einen freundlichen Herrn in Flanellhose und beigem Strickjäckchen, der mit seiner Mutter seit Ewigkeiten in einem Haus lebt, als Lagerist arbeitet und bei den Nachbarn in hohem Ansehen steht. Er ist gesprächig, seriös und hilfsbereit. Doch hinter der Maske des Biedermanns, hinter der seine Persönlichkeit so weit verschwindet, dass es nicht einmal ein Dutzend Fotografien gibt, auf denen er zu sehen ist, lebt Karlheinz Weinberger noch ein zweites, sein wirkliches Leben, ein Leben mit der Kamera. «Was ich arbeitete, machte ich richtig, aber es interessierte mich nie. Ich habe nur für die Fotografie gelebt. Für mich war der Feierabend maßgebend, die Wochenenden und die Ferien. Wenn um 17 Uhr der Rollladen runterging, begann meine Zeit.»

Er machte sich auf die Suche nach Modellen, nach proletarischen Typen, wie er sie in der Arbeiterjugend fand, der er sich angeschlossen hatte. Sein Wunsch der Aneignung dieser jungen Männer durch die Fotografie blieb stets unausgesprochen, doch die Atmosphäre ist gerade deshalb erotisch gesättigt.


«Ich bin ein Ästhet, ich habe immer nur fotografiert, was mir gefallen hat», entgegnete er Leuten, die erstaunt oder irritiert seine Bilder in Augenschein nahmen. Seine Motive waren Halbstarke und junge Erwachsene, zunächst Arbeiter und Sportler, dann zunehmend jene, deren Auftreten und Kleidung für sich schon Revolution bedeuteten. Zerrissene Jeansjacken, wild bestickt mit Namen und Bildern von Idolen wie Elvis oder James Dean. Mit riesigen Gürtelschnallen und einem schauerlichen Konsum an Haarspray und Pomade lehnen sie in Weinbergers improvisierten Wohnzimmerstudio, rotten sich aufmüpfig an öffentlichen Orten um ein Motorrad zusammen oder hängen herum bei einem Zeltlager oder Jahrmärkten, wie dem Züricher Knabenschießen.

Der Geschmack des unauffälligen Herrn mit der Kamera ist ein besonderer, seine äußere Erscheinung macht zwar sofort deutlich, dass er nicht dazu gehört, doch er wird akzeptiert, denn seine Fotografien werden zu Recht als Solidaritätsbekundung verstanden, vielleicht sogar als Bilder einer gemeinsamen Sehnsucht. Der Dokumentarist dieser Schweizer Subkultur manifestiert mit ihnen seinen eigenen Wunsch nach Freiheit, den er sich als Schwuler diskret in wenigen intensiven Beziehungen und vielen sexuellen Abenteuern abseits des schwulen Ghettos erfüllte. Seinen Modellen fühlte er sich seelenverwandt, begegnete ihnen mit einem Respekt und einer Sympathie, die bei einer so durch und durch bürgerlichen Erscheinung verblüffen musste. Doch vor Weinbergers Linse wurden sie nicht zu abartigen Freaks, sondern zu Verbündeten, die über den kurzen Moment der Aufnahme hinaus auf den Mann hinter der Kamera zählen konnten. Der Fotograf gewährte ihnen Asyl, wenn sie die Polizei suchte, er versteckte sie wenn nötig auf dem Dachboden und verhandelte in ihrem Sinne geschickt mit den Beamten. Wenn sie wieder einmal eine Meldeanschrift nötig hatten, ihr Mentor hatte die entsprechenden Formulare zur Hand – in seinem Nachlass fanden sich rund zweihundert Anmeldungen unter seiner Adresse. Das war Weinbergers Form der Rebellion, seine Art, Bürokratie ins Leere laufen zu lassen.


Als Gegenleistung für die Solidarität des Fotografen ließen die Modelle auch schon mal die Hüllen fallen und entfalteten ungezwungene sexuelle Aktivitäten, die, betrachtet man die Aufnahmen Weinbergers, nicht vor einer Kamera, sondern versunken in sich selbst vor einem Spiegel stattzufinden scheinen. Selbst hier ist nichts von Voyeurismus zu spüren, nichts von einem affektierten Posing, wie man es etwa von den Bildern Larry Clarks kennt, sondern lediglich ein Monolog des Modells mit sich selbst. Der Fotograf verschwindet einmal mehr, er wird zur personifizierten Diskretion.

Hunderte dieser kleinformatig-intimen Bilder hatte Weinberger über die Jahre an Eugen Laubacher verkauft, den Redakteur der französischen Beiträge in der bedeutenden und zunächst weltweit einzigen Zeitschrift für Homosexuelle „Der Kreis“, die von 1943 bis 1967 erschien und in der auch Weinberger regelmäßig seine Aufnahmen unter dem Pseudonym Jim veröffentlichte. Laubacher lebte in einem feudalen Jugendstilhaus in der Vogelsangstraße 11 und führte auf seine Weise ein ausgeklügeltes Doppelleben: Neben seinem bürgerlichen Namen stand noch ein zweiter, Charles Welti, an der Haustür, und je nachdem, wo ein Besucher klingelte, lernte er eines der beiden Gesichter dieses engagierten Mannes kennen, den Banker und Direktor der Südamerikanischen Elektrizitätsgesellschaft oder den Journalisten und Schwulenaktivisten.

Der Herausgeber von „Der Kreis“, Karl Meier (Pseudonym Rolf), veranstaltete Bälle und gründete eine schwule Theatergruppe, die eigene Stücke (wie sein Stricherdrama „Tiergartenballade“) und Bearbeitungen, darunter „Die Halbstarken“, aufführte. Weinberger war immer dabei, als dezenter Gast und wachsamer Beobachter, der es geschickt verstand, in den Pausen kultureller Großereignisse gelegentlich die Bühne zu betreten und sie für ein Shooting zu nutzen.

Bevor Laubacher 1999 im Alter von 97 Jahren starb, retournierte er alle erotischen Aufnahmen an den Urheber – in seinem Nachlass sollte man sie nicht finden, denn auch über seinen Tod hinaus gedachte er seine bürgerliche Fassade weitgehend zu erhalten. Zu diesem Zweck ordnete er seinen Nachlass nach Zimmern seines Hauses, die er verschiedenen Erben zusprach. So lagerten in  einem Raum, der für seinen Freund und Chauffeur bestimmt war, alle Dokumente zu „Der Kreis“. Laubacher war gesellschaftlich so etabliert, dass er keine unangenehmen Überraschungen von Seiten der Polizei zu befürchten hatte. Weinberger musste dagegen erleben, dass die durch verschiedene Skandale in Verruf geratenen Ordnungshüter ihr Ansehen nicht nur durch gesteigerte Kontrollen und Razzien in Schwulenlokalen wieder aufzupolieren suchten, sondern auch sein Fotoarchiv beschlagnahmten, wohl um mit einem Streich eine umfassende Bilddatei aller subversiven Elemente der Stadt zu besitzen. Die Bilder wurden nie zurückgegeben und gelten heute als verschollen – vielleicht wurden sie irgendwann geschreddert, vielleicht tauchen sie eines Tages als verwegener Coup auf einer Auktion auf, eingeliefert aus dem Nachlass eines Züricher Polizeibeamten.


Zu Beginn des neuen Jahrtausends, Weinberger war 80 Jahre alt, entdeckte nach drei Ausstellungen in Zürich und London der amerikanische Markt sein Werk. Ein Raunen war durch die Kunstkreise gegangen, von dem eigenwilligen alten Herrn in Zürich war die Rede, dem fotografierenden Ethnographen, der eine Generation dokumentiert hatte, die so ungehobelt, authentisch und vital daher kam, dass daneben die Young Rebels amerikanischen Zuschnitts wie geschniegelte Models wirkten.

Wenn überhaupt, dann hätte man diese Jugend mit den Worten des Trash-Kult-Regisseurs und Weinberger-Fans John Waters wohl noch eher in einer verwahrlosten Hafenstadt wie Baltimore verortet, aber in der Schweiz? „Karlheinz Weinberger was from Switzerland??! You gotta be kidding me“, dachte Waters, als er das erste Mal diese Bilder zu sehen bekam.

Es ist wirklich an der Zeit, dass dieses Kapitel alpenrepublikanischer Subversion nach mehr als einem halben Jahrhundert auch in Deutschland zu sehen ist. Das aktuelle Buch zu Weinbergers Oeuvre ist gerade bei Rizzoli New York erschienen, die Berliner Galerie cubus m hat sich vorgenommen, den Fokus noch etwas zu erweitern und ein umfassendes Panorama jener Jugendkultur zu präsentieren, von der man guten Gewissens behaupten kann, dass sie einzigartig gewesen ist.

Dr. Boris von Brauchitsch



In the late 50s, Zurich, Switzerland, is influenced by a distinctive connection between dynamic and stability. It is a time of technical, economic and social upheaval. The society is reacting with an attitude of preserving and defending tradition.


In the center of the perfectly orderly life in Switzerland, camouflaged in bourgeois society, we meet a friendly man in flannel pants and a beige cardigan sweater still living with his mother in the same house after years and years. He works in a warehouse department and is regarded highly by his neighbors. He is communicative, serious and helpful. However, hidden behind the mask of the conservative conventional man, his true self is repressed to such a degree that not even a dozen photos exist of him. Karlheinz Weinberger lives a second life, his real life, a life with the camera.


During this time, the first articles about the new generation of “rebels” in the USA appear in the Swiss daily press; their increasing presence was soon found in Hollywood productions with James Dean and Marlon Brando. Shortly afterwards the first reports about the “rebels” in Switzerland were in the newspapers.


“I had to photograph a rebel.“ Quote from Karlheinz Weinberger


Karlheinz Weinberger’s work eludes the framework of mass media photography. His works show the passionate obsession of someone self-taught in a thematic and aesthetically technical consistency. His pictures seem closely connected with photography, in that they offer themselves as objects and bearers of obsessive energy. Weinberger’s work doesn’t arise from a radical “art for art’s sake”, it is much more a blatant curiosity as is found in the works of the young photo generation represented by artists like Nan Goldin, Richard Billingham, Roger Melis or Mark Morrisroe.


One doesn’t sense voyeurism nor the affected posing known in photos by Larry Clark, but more that the shots are like monologues of the models with themselves. The photographer disappears once again; he is the personification of discretion.


At the beginning of the new millennium, after three exhibitions in Zurich and London, the American market finally discovered Weinberger at the age of 80. A quiet murmur went through the art circles. Suddenly the talk was about an unconventional old man in Zurich, the photographing ethnographer who documented and captured a generation that comes across so unpolished, authentic and vital that the Young Rebels in America seem like dressed up models in comparison.

Like the trash cult director and Weinberger fan, John Waters, commented: it would be possible to have imagined this youth living in an abandoned port city like Baltimore, but in Switzerland?, “Karlheinz Weinberger was from Switzerland??! You gotta be kidding me“, thought Waters the first time he saw the photos.


The time has finally come that this chapter of Alpine-republican subversion has come to Germany after more than a half a century.  The current book about Weinberger’s body of work has just been published by Rizzoli New York. The Berlin Galerie cubus-m decided to expand the focus and present an extensive panorama of Karlheinz Weinberger’s work.